Runciman-Bericht (engl. Teilübersetzung –> Runciman-Report): Der vom britischen Lord Sir Walter Runciman of Doxford am 16. September 1938 für den britischen Premierminister A. N. Chamberlain ausgearbeitete Bericht über die Lage der Sudetendeutschen:

Schlußbericht von Lord Runciman an Sir Neville Chamberlain über seine Mission in Prag

(abgefaßt nach der Abreise vom 16. IX. 1938 und endgültig übergeben am 21. IX. 1938. Der Bericht Lord Runcimans liegt auf der Sitzung des englischen Kabinetts vom 17. September vor, auf der Sir Neville Chamberlain über die Berchtesgadener Unterredung mit A. Hitler berichtet.)

 

Mein lieber Premierminister!

Als ich die Aufgabe übernahm, im Streit zwischen der tschechoslowakischen Regierung und der Sudetendeutschen Partei zu vermitteln, wurde mir selbstverständlich völlig freigestellt, mir meine Informationen zu beschaffen und meine eigenen Schlußfolgerungen zu ziehen. Ich war auch nicht verpflichtet, irgendeinen Bericht vorzulegen. Unter den heutigen Verhältnissen jedoch könnte es für Sie nützlich sein, die endgültige Meinung zu erfahren, zu der ich bei meiner Mission gelangt bin, sowie einige Vorschläge, die, wie ich glaube, in Betracht gezogen werden sollten, wenn eine permanente Lösung gefunden werden soll.

Die Frage der politischen, sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen der teutonischen und der slawischen Rasse in jenem Gebiet, das heute die Tschechoslowakei heißt, ist ein Problem, das seit vielen Jahrhunderten besteht. Es gab Perioden, in denen sich der Kampf verschärfte, und relativ friedliche Perioden. Das ist kein neues Problem, und in der heutigen Etappe wirken gleichzeitig sowohl neue als auch alte Faktoren, die bei einer gründlichen Prüfung erwogen werden müßten.

Als ich Anfang August nach Prag kam, stieß ich unmittelbar auf dreierlei Fragen, und zwar auf Fragen (1) konstitutioneller, (2) politischer und (3) wirtschaftlicher Natur. Die Verfassungsfrage war es, mit der ich mich direkt und unmittelbar beschäftigte. Damals handelte es sich um die Gewährung einer gewissen Selbstverwaltung für die Sudetendeutschen in den Grenzen der Tschechoslowakischen Republik ; die Selbstbestimmungsfrage bestand noch nicht in scharfer Form. Ich mußte mich mit der Geschichte der Frage, mit den wichtigsten beteiligten Persönlichkeiten und mit den beiderseitigen Vorschlägen zur Lösung der Frage bekannt machen, nämlich mit den Vorschlägen der Sudetendeutschen Partei, die sie in ihrem vorläufigen Entwurf der tschechoslowakischen Regierung am 7. Juni unterbreitet hatte (dieser Entwurf enthielt die 8 Punkte aus der Karlsbader Rede des Herrn Henlein), und mit den Vorschlägen der tschechoslowakischen Regierung, wie sie im Entwurf des Nationalitätenstatuts, in der Sprachverordnung und der Gesetzvorlage über die Verwaltungsreform enthalten waren.

Es stellte sich heraus, daß keiner dieser Vorschläge für die andere Seite in genügendem Maße annehmbar war, um als weitere Verhandlungsbasis dienen zu können, und am 17. August wurden die Verhandlungen abgebrochen. Nach einer Serie privater Unterredungen zwischen führenden Persönlichkeiten der Sudetendeutschen und Vertretern der tschechischen Behörden stimmte die tschechoslowakische Regierung einer neuen Verhandlungsbasis zu, die mir am 5. September und den Sudetenführern am 6. September mitgeteilt wurde. Das war der sogenannte „vierte Plan". Meiner Meinung nach, und ich glaube auch nach Dafürhalten der verantwortlichen Sudetenführer, enthielt dieser Plan fast alle Forderungen der Karlsbader 8 Punkte und hätte ihnen nach einiger Klärung und Erweiterung völlig Genüge getan. Man hätte auf dieser günstigen und aussichtsreichen Basis die Verhandlungen sofort wieder aufnehmen müssen. Aber es kann kaum bezweifelt werden, daß gerade der Umstand, daß sie so günstig waren, das Hindernis für die Annahme der Vorschläge durch die extremeren Mitglieder der Sudetendeutschen Partei bildete.

Ich glaube, daß der Zwischenfall anläßlich der Reise einiger sudetendeutscher Abgeordneter nach Mährisch-Ostrau zur Einsichtnahme in die Akten der dort wegen Waffenschmuggels verhafteten Personen als Vorwand ausgenutzt wurde, um die Verhandlungen zu vertagen, wenn nicht abzubrechen. Die tschechische Regierung hat aber in dieser Frage den Forderungen der Sudetendeutschen Partei sofort nachgegeben, und so wurden die Vorbesprechungen über den „vierten Plan" am 10. September wieder aufgenommen. Wieder bin ich davon überzeugt, daß dies nicht in die Politik der sudetendeutschen Extremisten paßte und daß deshalb am 11. September, und mit noch größerem Effekt am 12. September nach der Hitlerrede, Zusammenstöße provoziert und inszeniert wurden. Im Ergebnis der so hervorgerufenen Unruhen und des Blutvergießens lehnte es die Sudetendelegation ab, an der auf den 15. September angesetzten Begegnung mit den tschechischen Behörden teilzunehmen. Herr Henlein und Herr Frank legten eine Reihe neuer Forderungen vor —  den Abzug der Staatspolizei, die Beschränkung der Truppenverwendung auf rein militärische Zwecke usw. Die tschechoslowakische Regierung war wieder bereit, diese Forderungen anzunehmen unter der einzigen Bedingung, daß ein Parteivertreter nach Prag komme, um darüber zu verhandeln, wie für die Aufrechterhaltung der Ordnung gesorgt werden sollte. In der Nacht zum 15. September lehnte Herr Henlein diese Bedingung ab, und die Verhandlungen wurden völlig abgebrochen.

Es ist ganz klar, daß wir nicht zur Lage zurückkehren können, in der wir uns vor zwei Wochen befanden, und daß wir die heutige Lage prüfen müssen.

Nach der Ablehnung der Vorschläge der tschechoslowakischen Regierung vom 13. September und dem Abbruch der Verhandlungen durch Herrn Henlein waren meine Funktionen als Vermittler faktisch beendet. Direkt oder indirekt ist in der heutigen Situation die Verbindung zwischen den sudetendeutschen Hauptführern und der Reichsregierung der entscheidende Faktor; die Streitfrage ist schon keine innere Angelegenheit mehr. Die Vermittlung zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland gehörte aber nicht zu meinen Funktionen.

Die Verantwortung für den endgültigen Bruch fällt meines Erachtens auf Herrn Henlein und Herrn Frank und auf jene ihrer Parteigänger im In- und Ausland, die sie zu extremen und verfassungswidrigen   Handlungen   antrieben.

Ich bringe jedoch der Sache der Sudetendeutschen große Sympathie entgegen. Es ist hart, von einer fremden Rasse regiert zu werden, und mein Eindruck ist, daß die tschechoslowakische Verwaltung im Sudetengebiet, wenn sie auch in den letzten 20 Jahren keine aktive Unterdrückung ausübte und gewiß nicht „terroristisch" war, dennoch einen solchen Mangel an Takt und Verständnis und so viel kleinliche Intoleranz und Diskriminierung an den Tag legte, daß sich die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung unvermeidlich zur Empörung fortentwickeln mußte. Die Sudetendeutschen waren dazu noch der Ansicht, daß die tschechoslowakische Regierung ihnen in der Vergangenheit zu viele Versprechungen gemacht hatte, daß diesen Versprechungen jedoch nur wenige oder überhaupt keine Taten folgten. Diese Erfahrung hat unverhülltes Mißtrauen zu den führenden tschechischen Staatsmännern hervorgerufen. Ich kann nicht sagen, inwieweit dieses Mißtrauen begründet oder unbegründet ist, aber es ist zweifellos vorhanden, und wie versöhnend die Erklärungen der tschechischen Staatsmänner auch sein mögen, sie flößen der Sudetenbevölkerung kein Vertrauen ein. Dazu kommt, daß die Sudetendeutsche Partei bei den letzten Wahlen im Jahre 1935 mehr Stimmen erhielt als irgendeine andere Partei und faktisch zur zweitgrößten Partei im Parlament wurde. Sie verfügte damals über 44 Parlamentssitze von 300. Heute ist sie dank späteren Zuwachses die größte Partei. Aber sie kann immer überstimmt werden, und deshalb haben manche ihrer Mitglieder das Empfinden, ein verfassungsmäßiges Vorgehen sei für sie nutzlos und die tschechische Demokratie eine Farce.

Zu diesen Hauptschwierigkeiten gesellten sich noch örtliche Komplikationen. Tschechische Beamte und tschechische Polizisten, die wenig oder überhaupt nicht deutsch sprachen, wurden in großer Zahl in rein deutsche Gebiete versetzt. Tschechische landwirtschaftliche Kolonisten wurden dazu ermuntert, sich mitten unter Deutschen anzusiedeln, auf Grundstücken, die ihnen gemäß Bodenreform zur Verfügung gestellt wurden. Für die Kinder dieser tschechischen Siedler wurden hier viele tschechische Schulen eingerichtet. Allgemein besteht die Überzeugung, daß bei der Vergebung von staatlichen Aufträgen die tschechischen Firmen meist den deutschen vorgezogen wurden und daß der Staat den Tschechen bereitwilliger Arbeit und Unterstützung gewährt als den Deutschen. Ich halte diese Beschwerde im wesentlichen für gerechtfertigt. Sogar während meiner Mission habe ich bei der tschechoslowakischen Regierung keine Bereitschaft zu einem genügenden Entgegenkommen feststellen können.

Alle diese und andere Beschwerlichkeiten verstärkten sich noch durch die Auswirkung der Wirtschaftskrise auf die Sudetenindustrien, die im Wirtschaftsleben des Volkes einen so wichtigen Teil bilden. Natürlich wird der Regierung die Schuld für die dadurch hervorgerufene Verarmung zugeschrieben.

Aus diesen und vielen andern Gründen herrschte unter den Sudetendeutschen vor drei, vier Jahren eine große Hoffnungslosigkeit. Aber die Aufrichtung Nazideutschlands erfüllte sie mit neuer Hoffnung. Ihren Hilferuf an ihre Stammesgenossen und schließlich ihren Wunsch, ins Reich einverleibt zu werden, halte ich unter diesen Umständen für durchaus natürlich.

Zur Zeit meiner Ankunft hatten die gemäßigteren Sudetenführer noch eine Regelung in den Grenzen des tschechoslowakischen Staates gewünscht. Sie waren sich darüber klar, was ein Krieg im Sudetengebiet, das ja selbst zum Hauptkriegsschauplatz werden würde, für sie bedeutet. Vom nationalen wie auch vom internationalen Standpunkt wäre eine solche Regelung eine leichtere Lösung als die Gebietsabtretung. Ich habe alles, was in meinen Kräften stand, zur Unterstützung dieser Sache getan, und bis zu einem gewissen Grade sind meine Bemühungen nicht ohne Erfolg geblieben. Aber auch damals hatte ich Zweifel, ob diese Regelung, auch wenn sie zustande kommen sollte, realisierbar sei, ohne neue Verdächtigungen, Konflikte, Beschuldigungen und Gegenanklagen hervorzurufen. Ich war der Ansicht, daß eine jede solche Lösung nur ein Provisorium und keinesfalls von längerer Dauer sein könnte.

Die als „vierter Plan" bekannte Regelung wurde unter den oben erwähnten Umständen zunichte gemacht. Die ganze Lage, sowohl die innere als auch die äußere, hatte sich verändert, und ich kam zu dem Schluß, daß mit diesen Veränderungen meine Mission zu Ende sei.

Als ich am 16. September Prag verließ, waren die stets nur sporadischen Revolten und Unruhen im Sudetengebiet völlig zum Stillstand gekommen. Über einen großen Teil der Bezirke war das sogenannte Standrecht verhängt. Die Sudetenführer, vor allem die extremsten, waren nach Deutschland geflohen und gaben Proklamationen heraus gegen die tschechoslowakische Regierung. Aus zuverlässigen Quellen ist mir bekannt, daß die Zahl der Toten auf beiden Seiten zur Zeit meiner Abreise nicht über 70 hinausging.

Sofern   nicht  das   Freikorps   des  Herrn   Henlein   vorsätzlich  zum Überschreiten  der Grenze  veranlaßt  wird,   sehe   ich   daher  keinen Grund für irgendwie bedeutende Zwischenfälle und Unruhen. Unter diesen Umständen besteht auch nicht mehr die Notwendigkeit, daß die Staatspolizei in diesen Gebieten bleibt. Da die Staatspolizei bei der deutschen Bevölkerung äußerst unpopulär ist und in den letzten drei Jahren am meisten Anstoß erregt hat, bin ich der Ansicht, daß sie so rasch wie möglich abgezogen werden müßte. Ich glaube, daß mit ihrem Abzug der Anlaß zu Streitigkeiten und Revolten geringer werden wird. Ferner wurde es für mich zur Selbstverständlichkeit, daß jene Grenzgebiete zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland, in denen die Sudetenbevölkerung eine bedeutende Mehrheit ausmacht, sofort das volle Selbstbestimmungsrecht erhalten müssen. Wenn, wie ich glaube, eine bestimmte Gebietsabtretung unvermeidlich ist, so wäre es erwünscht, daß dies rasch und ohne Verzögerung geschieht. Es besteht eine reale Gefahr, sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges, falls diese Ungewißheit andauert. Infolgedessen liegen durchaus reale Gründe für eine Politik sofortiger und durchgreifender Maßnahmen vor. Jedwedes Plebiszit und Referendum bezüglich dieser hauptsächlich deutschen Gebiete wäre meiner Meinung nach eine reine Formsache. Der überwiegende Teil ihrer Bevölkerung wünscht eine Verschmelzung mit Deutschland. Die bei der Durchführung einer Volksabstimmung unvermeidliche Verzögerung würde lediglich zu einer Aufwühlung der Gefühle des Volkes führen und wahrscheinlich sehr gefährliche Ergebnisse zeitigen. Nach meinem Dafürhalten müßten dabei die Grenzgebiete sofort von der Tschechoslowakei an Deutschland abgetreten werden, und die Modalitäten der friedlichen Übergabe, einschließlich einer  Sicherheitsgarantie   für  die  Bevölkerung  in   der   Übergangsperiode, müßten durch eine Vereinbarung der beiden Regierungen geregelt werden.

Die Übergabe dieser Grenzgebiete löst jedoch nicht endgültig die Frage des künftigen friedlichen Nebeneinanderlebens der Deutschen und der Tschechen. Auch wenn alle Gebiete, in denen die Deutschen in der Mehrheit sind, an Deutschland übergeben werden sollten, blieben in der Tschechoslowakei doch noch eine beträchtliche Anzahl Deutscher zurück, und in den an Deutschland abgetretenen Gebieten gäbe es noch eine gewisse Anzahl Tschechen. Die wirtschaftlichen Bindungen sind so eng, daß eine absolute Abtrennung nicht nur unerwünscht, sondern sogar undenkbar wäre, und ich drücke erneut meine Überzeugung aus, daß die Geschichte die Möglichkeit eines freundschaftlichen Zusammenlebens der beiden Völker in Friedenszeiten bewiesen hat. Ich denke, es ist im Interesse sowohl aller Tschechen als auch aller Deutschen, wenn die Wiederherstellung dieser friedlichen Beziehungen gefördert wird, und ich bin überzeugt, daß der Durchschnittstscheche und der Durchschnittsdeutsche dies tatsächlich wünschen. Sie sind gleich ehrlich, friedliebend, arbeitsam und genügsam, und wenn die politischen Reibungen auf beiden Seiten beseitigt sein werden, so glaube ich, daß sie ruhig zusammenleben können.

Deshalb empfehle ich es, zu versuchen, für die Teile des Gebietes, in denen die deutsche Mehrheit nicht so bedeutend ist, eine Basis für eine örtliche Autonomie in den Grenzen der Tschechoslowakischen Republik zu finden auf der Grundlage des „vierten Planes", der gemäß den neuen, durch die Abtretung der vorwiegend deutschen Gebiete bedingten Verhältnisse modifiziert werden müßte. Wie ich schon erwähnte, besteht stets die Gefahr, daß eine im Prinzip gefundene Lösung in der Praxis zu weiteren Differenzen führen kann. Ich glaube jedoch, daß dieses Risiko in einer friedlicheren Zukunft auf ein Minimum herabgesetzt werden kann.

Das bringt mich auf die politische Seite des Problems, welche die Integrität und Sicherheit der Tschechoslowakischen Republik betrifft, insbesondere hinsichtlich der unmittelbaren Nachbarn. Ich bin der Ansicht, das Problem bestehe hier in der Beseitigung eines Zentrums intensiver politischer Reibungen im Herzen Europas. Zu diesem Zweck muß eine zuverlässige Garantie dafür geschaffen werden, daß der tschechoslowakische Staat mit allen seinen Nachbarn in Frieden leben kann und daß sich seine Politik, sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik, danach orientiere. So wie es für die internationale Lage der Schweiz notwendig ist, daß ihre Politik absolut neutral bleibt, ist eine ähnliche Politik für die Tschechoslowakei notwendig, und nicht nur im Interesse ihrer eigenen Zukunft, sondern auch im Interesse des europäischen Friedens.

Zur Erreichung dieses Zieles empfehle ich:

1. daß jenen Parteien und Persönlichkeiten in der Tschechoslowakei, die vorsätzlich eine den Nachbarn der Tschechoslowakei feindliche Politik gefördert haben, die Fortsetzung ihrer Agitation von der tschechoslowakischen Regierung verboten werde und, wenn erforderlich, gesetzliche Maßnahmen getroffen werden, um dieser Agitation ein Ende zu setzen;

2.   daß die tschechoslowakische Regierung ihre auswärtigen Beziehungen in einer Weise verändere, die ihren Nachbarn volle Garantie gibt, daß die Tschechoslowakei sie unter keinen Umständen angreifen und  keinerlei   gegen  sie  gerichtete  aggressive  Handlungen   unternehmen werde, die ihr aus Verpflichtungen gegenüber andern Staaten erwachsen könnten;

3.   daß die Großmächte, die im Interesse des europäischen Friedens wirken, der Tschechoslowakei für den Fall einer gegen sie gerichteten unprovozierten Aggression Unterstützung garantieren;

4.   daß Deutschland und die Tschechoslowakei einen Handelsvertrag auf der Basis der Meistbegünstigung abschließen, wenn dies in ihrem beiderseitigen Wirtschaftsinteresse liegt.

Dies führt mich zu der dritten Frage, die in den Rahmen meiner Untersuchung fällt, nämlich zum ökonomischen Problem. Dieses Problem erwächst im Zusammenhang mit der Notlage und der Erwerbslosigkeit im sudetendeutschen Gebiet, die seit 1930 ständig anhalten und durch verschiedene Ursachen hervorgerufen sind. Sie bilden einen günstigen Nährboden für die politische Unzufriedenheit. Das Problem besteht, es wäre aber falsch, zu sagen, die sudetendeutsche Frage sei zur Gänze oder im wesentlichen eine ökonomische Frage. Wenn die Gebietsabtretung erfolgt, so wird dieses Problem in der Hauptsache von der deutschen Regierung gelöst werden müssen.

Sollte die oben dargelegte Politik für die in der gegenwärtigen Situation verantwortlichen Persönlichkeiten annehmbar sein, so würde ich ferner empfehlen: a) daß ein Vertreter der sudetendeutschen Bevölkerung einen ständigen Sitz in der tschechoslowakischen Regierung habe; b) daß zur Entscheidung der Frage der Grenzziehung in den an Deutschland abzutretenden Gebieten und zur Regelung der aus der Realisierung eines jeden Abkommens unmittelbar erwachsenden Streitfragen eine Kommission unter neutralem Vorsitz ernannt werde; c) daß für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Gebieten, die an Deutschland übergeben werden sollen, bis zu ihrer faktischen Übergabe internationale Streitkräfte aufgestellt werden, damit, wie ich das schon weiter oben ausgeführt habe, die tschechoslowakische Staatspolizei sowie die tschechoslowakischen Truppen aus diesem Gebiet abgezogen werden könnten.

Ich möchte diesen Brief schließen, indem ich der persönlichen Höflichkeit, Gastfreundschaft und Unterstützung gedenke, die mir und meinen Mitarbeitern seitens der Regierung und besonders von Dr. Benesch und Dr. Hodscha entgegengebracht wurden sowie auch seitens der Vertreter der Sudetendeutschen Partei, mit denen wir Kontakt hatten, und seitens einer großen Anzahl anderer Persönlichkeiten in verschiedenen Stellungen, mit denen wir während unseres Aufenthaltes in der Tschechoslowakei zu tun hatten.

Ihr ergebener Runciman of Doxford

{Quelle (4)}

Literatur:

1. Brügel, Johann Wolfgang: Der Runciman-Bericht.- In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), S. 652-659
2. Vysny, Paul: The Runciman Mission to Czechoslovakia, 1938: Prelude to Munich

3. J. Benoist-Méchin: Am Rande des Krieges 1938. Die Sudetenkrise. Gerhard Stalling Verlag · Oldenburg und Hamburg 1967. S. 219 – 233 {Kapitel XIII, Lord Runcimans Mission in Prag (3. August bis 10. September 1938)}.
Die französische Originalausgabe „Histoire de l'Armée allemande, Volume V, Les épreuves de force (1938)“ erschien im Verlag Albin Michel, Paris

4. Der Bericht Lord Runcimans an Premierminister Chamberlain ist enthalten in “Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten“, herausgegeben von Prof. Dr. Michael Freund, Freiburg/München 1953, Bd. I, S. 148 ff.


Englische Teilübersetzung:
Runciman-Report. The report of Lord Runciman to the British Prime Minister on September 26, 1938:

„It is a hard thing to be ruled by an alien race; and I have been left with the impression that Czechoslovak rule in the Sudeten areas for the last twenty years, though not actually oppressive and certainly not 'terroristic', has been marked by tactlessness, lack of understanding, petty intolerance and discrimination, to a point where the resentment of the German population was inevitably moving in the direction of revolt. The Sudeten Germans felt, too, that in the past they had been given many promises by the Czechoslovak Government, but that little or no action had followed these promises. This experience had induced an attitude of open mistrust of the leading Czech statesmen. I cannot say how far this mistrust is merited or unmerited; but it certainly exists, with the result that, however conciliatory their statements, they inspire no confidence in the minds of the Sudeten population. Moreover, in the last elections of 1935 the Sudeten German party polled more votes than any other single party; and they actually formed the second largest party in the State Parliament. They then commanded some 44 votes in a total Parliament of 300. With subsequent accessions, they are now the largest party. But they can always be outvoted; and consequently many of them feel that constitutional action is useless for them.
Local irritations were added to these major grievances. Czech officials and Czech police, speaking little or no German, were appointed in large numbers to purely German districts; Czech agricultural colonists were encouraged to settle on land transferred under the Land Reform in the middle of German populations. For the children of these Czech invaders Czech schools were built on a large scale.
There is a very general belief that Czech firms were favoured as against German firms in the allocation of State contracts and that the State provided work and relief for Czechs more readily than for Germans.
I believe these complaints to be in the main justified. Even as late as the time of my Mission, I could find no readiness on the part of the Czechoslovak Government to remedy them on anything like an adequate scale.
All these, and other, grievances were intensified by the effects of the economic crisis on the Sudeten industries, which form so important a part of the life of the people. Not unnaturally, the Government was blamed for the resulting impoverishment...
This brings me to the political side of the problem, which is concerned with the integrity and security of the Czechoslovak Republic, especially in relation to her immediate neighbours. I believe that here the problem is one of removing a centre of intense political friction from the middle of Europe. For this purpose it is necessary permanently to provide that the Czechoslovak State should live at peace with all her neighbours and that her policy, internal and external, should be directed to that end. Just as it is essential for the international position of Switzerland that her policy should be essentially neutral, so an analogous policy is necessary for Czechoslovakia - not only for her own future existence but for the peace of Europe.“

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