Dreißig Jahre in Indien.

Der Lebensweg eines Zwittauer.
Besuch in der Heimat nach mehr als 30 Jahren

In unserer Stadt weilt zur Zeit ein interessanter Gast. Herr Adolf Pliva aus Darjeeling in Indien, Eigentümer eines stattlichen Unternehmens ist zu Besuch in seine Heimatstadt Zwittau zurückgekehrt, die er als Jüngling vor fast 31 Jahren arm und krank verlassen hat. Die Lebensschicksale dieses Zwittauers, der sich in einer sich ungeheuer weiten und fremden Welt trefflich bewährte, sind wert, daß sie allen unseren Landsleuten zur Kenntnis gebracht werden. Einfach und schlicht, als würden diese Schilderungen gar nicht ihn betreffen, ist Herr Pliva dem Ersuchen unseres Schriftleiters, aus seinem Leben zu erzählen, nachgekommen.

Im Jahre 1887 in Zwittau im Hause Badhausgasse K.N.112 geboren (K.N. = Konskriptionsnummer, Anm.), besuchte der junge Adolf Pliva hier die Volks- und Bürgerschule und kam dann als Lehrling zu dem Zuckerbäcker Moritz Täubling, bei dem er auch nach der Auslehre noch einige Zeit als Zuckerbäckergehilfe arbeitete. Später ging er als Zuckerbäckergehilfe nach Sillein (Slowakei) und schließlich nach Leipzig. Hier brach ein Unheil über ihn herein, das ihn zu vernichten drohte, das seinen ganzen weiteren Lebensweg richtungsgebend beieinflußte, schließlich aber, dank seines unbezwingbaren Lebensmutes, zu seinem Besten ausging. Schon nach dreimonatigen Aufenthalt in der Großstadt Leipzig wurde er lungenkrank und musste volle sechs Monate im Allgemeinen Krankenhaus in Leipzig und weitere sechs Monate in der Lungenheilanstalt Luze in Böhmen zubringen. Noch immer krank kehrte er schließlich in seine Heimatstadt Zwittau zurück.

Hier wurde ihm empfohlen, in Aegypten Heilung zu suchen. In der Hoffnung, in Aegypten Arbeit und damit auch die Möglichkeit zu einem längeren Aufenthalt zu finden, beschloß der junge Pliva, die große Reise zu wagen. Zwei ehemalige Mitschüler und von dem gleichen Leiden heimgesuchte Schicksalsgenossen, Franz Pirschl und Franz Urbatschek, gingen mit ihm. Am 02. November 1906 traten die drei jungen, noch nicht 20jährigen Leute, die so tapfer den für sie doppelt schweren Lebenskampf aufgenommen hatten, ihre Reise nach Heluan bei Kairo an.

Unerbittlich brach das Schicksal über sie herein. Arbeit fanden sie in Aegypten keine, Urbatschek kehrte im nächsten Sommer nach Zwittau zurück, wo er bald starb. Pirschl starb in Kairo, der junge Pliva blieb allein zurück, noch immer auf Genesung hoffend.
Ein Zufall führte ihn mit einem deutschen Arzte zusammen und dieser gab ihm den Rat, nach Darjeeling in Indien zu gehen; in diesem im Himalaja, dem gewaltigsten Gebirge der Welt, in den Vorbergen des Mount Everest, in fast 2200 Meter Höhe gelegenen Luftkurorte mit besonders begünstigtem Klima werde er Genesung finden.

Mit dem Vertrauen und der Unbeschwertheit der Jugend folgte Pliva trotz der ungeheueren Entfernung diesem Rate. Glücklich kam er nach Darjeeling und schon wenige Tage nach seiner Ankunft gelang es ihm, eine Stelle als Direktor eines Restaurations- und Konditoreibetriebes zu finden – desselben Betriebes, der weitgehend ausgebaut und vergrößert, heute sein Eigentum ist. Aber dies ging keineswegs so leicht und glatt, wie es nach dem Vorstehenden scheinen mag. Große Umwege, schwere Kämpfe und harte Jahre waren notwendig, um ihn endlich an dieses Ziel gelangen zu lassen.

Zunächst verblieb Herr Pliva drei Jahre in dieser Stellung, in der wunderbaren Hochgebirgsluft, bald seine volle Gesundheit erlangend, so wie es ihm der deutsche Arzt in Aegypten vorhergesagt hatte. Persönliche Gründe bewogen ihn dann, diese Stellung aufzugeben. Er begab sich in die Stadt Raini-Tal (zu deutsch „Neun Seen“), einen etwa drei Tagesreisen von Darjeeling entfernten, aber ähnlich wie dieses in den Vorbergen der Himalaja-Kette in etwa 2000 Meter Höhe malerisch um einen See gelegenen Höhenkurort, der im Sommer Hauptstadt der Vereinigten britischen Provinzen Agra und Oudh ist. Hier war Pliva durch fünf Jahre als Direktor des Royal-Hotels tätig, das er sodann käuflich erwarb. Aber nun brach nach einer Reihe glücklicher Jahre neues Unheil über ihn herein: Der Weltkrieg begann. Herr Pliva war noch immer österreichischer Staatsbürger, daher jetzt auf einmal Feind in dem ihn bisher so gastfreundlichen Lande. In Einvernehmen mit dem früheren Besitzer gelang es ihm, den Hotelkauf rückgängig zu machen und einen Teil des ausgezahlten Geldes zu retten.

Im Frühjahr 1915 wurde er im Internierungslager Ahmednagar in der Provinz Bombay interniert, welches Schicksal er mit über 2000 anderen Deutschen und Österreichern teilte. Das Lager war während des Burenkrieges zur Internierung Gefangener Buren errichtet worden. Dank dem Einflusse seiner Frau – Herr Pliva hatte im Jahre 1912 eine Engländerin aus London geheiratet – die, um mit ihrem Gatten vereint zu sein, nun selbst ihre Internierung verlangte, kam er nach elfmonatigen Aufenthalte in Ahmednagar in das höher und daher viel günstiger gelegenen Internierungslager Belgaum, wo es ihm und seiner Familie – während der Internierung wurde dem Ehepaar ein Sohn und eine Tochter geboren – abgesehen von der mangelnden Freiheit, gut erging. Sie teilten die Gefangenschaft in diesem Lager hauptsächlich mit Deutschen aus Deutsch-Ostafrika.

Am 16. Januar 1920 wurde Herr Pliva frei. Zunächst begab er sich mit seiner Familie nach Kalkutta, wo jedoch neue Prüfungen seiner warteten. Er hatte keine Arbeit, seine Ersparnisse aus besseren Zeiten waren bald aufgezehrt. Dazu wurde sein Sohn schwer krank und mußte in ein Krankenhaus gebracht werden. Die verzweifelte Mutter, die nicht vom Lager des Kindes weichen wollte, setzte schließlich die Erlaubnis durch, bei dem Kinde verbleiben zu dürfen, bis sie es geund gepflegt hatte. Ein Bekannter, ein Italiener namens Vado, der während des Krieges das Geschäft in Darjeeling übernommen hatte, in dem Pliva zuerst angestellt war, half ihm durch ein größeres Darlehen über die ärgste Not dieser Zeit.

Nach Genesung des Kindes kehrte die Familie nach Raini-Tal zurück. Von hier aus gelang es Herr Pliva, eine Stelle als Kontrollor des Hauhaltes des Maharadschas von Jind (nordlich von Delhi gelegen) zu finden. In dieser Stellung ging es ihm sehr gut, doch hatte sie den Nachteil, daß er ständig von seiner Familie getrennt lebte, da er den Maharadscha auf allem Jagden und Reisen begleitete. Seine Familie wohnte während dieser Zeit in einem Landhause bei Jind, das an einem Flußkanal lag, dessen Wasser von Krokodilen bevölkert war. Wenn die Krokodile bei Tage das Wasser verließen, um sich zu sonnen, kam es vor, daß sie sich bis auf etliche Meter dem Haus näherten. Daß einer Mutter von zwei Kindern eine so unheimliche Nachbarschaft arg auf die Nerven ging, ist zu begreifen. Herr Pliva gab daher die Stelle etwa nach einem Jahre wieder auf. Er übersiedelte nun mit seiner Familie zunächst nach Bombay und später nach Rangoon, und war in beiden Orten als Hoteldirektor tätig.

In Rangoon erhielt er eines Tages – es war im Jahre 1925 – einen Brief von jenem Herrn Vado, der ihm seinerseits in Kalkutta in kameradschaftlicher Weise geholfen hatte. Vado hatte neben seinem Geschäft in Darjeeling auch ein Unternehmen in Kalkutta begonnen, dabei aber fast sein ganzes Vermögen verloren. Um nun wenigstens noch die Konditorei in Darjeeling zu retten, schlug er Herr Pliva vor, als Teilhaber in dieses Geschäft einzutreten.

In dankbarer Erinnerung an die Hilfe die ihm Vado in schwerster Zeit gwährt hatte, reiste Pliva nach Darjeeling. Das an sich lebens- und ausbaufähige Geschäft war durch Unglück Vados in eine sehr traurige Lage geraten. Mit raschen Entschluß ging Pliva auf den Vorschlag Vados ein; er wurde dessen Teilhaber und mit Hilfe seiner Ersparnisse wurde das Geschäft wieder in die Höhe gebracht. In der Folgezeit nahm es einen so großen Aufschwung, daß Herr Pliva bereits nach fünf Jahren dem Wunsche seines Teilhabers Vado, den es nach seinem Vaterlande Italien zurückzog, nachkommen und ihm seinen Anteil auszahlen konnte.

Nunmehr alleiniger Eigentümer des Unternehmens geworden, baute er es in rastloser Arbeit zu einem moderenen Großbetriebe aus. Neben einen Restaurant und einer mit modernsten Maschinen ausgestatteten Koditorei und Bäckerei, die weithin ihr Brot versendet, betreibt er auch ein umfangreiches Import- und Exportgeschäft, hauptsächlich mit Lebensmittel aller Art. Wenn auch die Stadt Darjeeling außer etwa 23.000 eingeborenen nur etwa 250 ständige europäische Einwohner zählt, so bietet doch der große Fremdenverkehr, der im Sommer Tausende von Europäern aus den indischen Städten, besonders aus Kalkutta, in die frische Gebirgsluft von Darjeeling führt, ausgedehnte Geschäftsmöglichkeiten. Außerdem versorgt Herr Pliva, selbst auf beträchliche Entfernung, die in der Gegend verstreut lebenden Europäer – hauptsächlich Besitzer von Teepflanzungen – mit Lebensmitteln. Und wenn in den angrenzenden Gebieten ein Radscha (indischer Fürst) mit hohen Gästen und zahlreichen Gefolge eine große Tigerjagd in den Dschungel veranstaltet, die sich in der Ebene in unermeßlicher Weite längs des Fußes des Himalaja-Gebirges hinzieht, dann übernimmt unser Landsmann Pliva mit seinen dazu eingerichteten Kraftwagen die unter diesen schwierigen Umständen überaus verantwortungsvolle Aufgabe der Verproviantierung der ganzen Jagdkolonne.

Über Darjeeling, seiner neuen Heimat, spricht Herr Pliva mit aufrichtiger Bewunderung. Die Eingeborenen, hauptsächlich Buddhisten, sind so wie alle Bergbewohner des östlichen Himalajagebietes schon mongolischen Stammes. Herr Pliva schildert sie als liebenswürdige, ehrliche und treue und vor allem überaus lebensfrohe Menschen, die man, obwohl es auch viele arme Leute unter ihnen gibt, kaum anders als lachend und singend sehen kann. Diese Eigenschaften machen sie zu den tüchtigsten und verläßlichsten Trägern für alle Himalaja-Expeditionen; daher gehen nicht nur die Besteigungen des Mount Everest von Darjeeling aus, sondern selbst Expeditionen in den weit entfernten Westteil des Himalaja (Nanga Parbat-Gebiet) reisen mit Vorliebe zuerst nach Darjeeling, um hier die Träger auszusuchen. Mit den Europäern leben die Eingeborenen hier im besten Einvernehmen. Neben dem großen Fremdenverkehr bildet Teepflanzung ihren Haupterwerb. Die Abhänge des Himalaja im Distrikte Darjeeling sind eines der Hauptzentren des indischen Teeanbaues.

Auf die Frage, ob es in Darjeeling auch Deutsche gibt, führt Herr Pliva ein einziges sudetendeutsches Ehepaar namens Paar an, hochbetagte Leute, beide über 80 Jahre alt. Herr Paar kam vor 45 Jahren als Photograph nach Darjeeling und führte in der grandiosen Landschaft seine Kunst zu solcher Höhe, daß er darob noch heute allgemein bekannt ist, obwohl er den Beruf schon seit vielen Jahren nicht mehr ausübt. Außerdem bekommt Herr Pliva häufig den Besuch eines deutschstämmigen Lama (buddhistischer Priester). Dieser Mann, ursprünglich ein Herr Habermann, war vor Jahren aus Deutschland nach Indien gekommen, um die buddhistische Religion zu studieren. In Choom, einem bekannten buddhistischen Kloster, hatte er einen Lehrer gefunden und war so tief in seine Aufgabe eingedrungen, daß er, der heute den Namen Govinda führt, bereits an verschiedene indische Universitäten berufen wurde, um dort Vorlesungen über Buddhismus und über indische Kunst zu halten.

Nach vielen Jahren Fremde wollte Herr Pliva nun auch die alte Heimat, die er nie vergessen und zu der er die Verbindung nie abgebrochen hatte (er ist u.a. seit langem ständiger Leser der „Zwittauer Nachrichten“) wiedersehen. Sein Unternehmen in der Obhut seiner Gattin und seiner erwachsenen Tochter zurücklassend, brach er am 15. Mai dieses Jahres in Darjeeling zur Reise nach Europa auf. Drei Tage lang fuhr er mit der Eisenbahn durch die Gluthitze, die zu dieser Zeit auf den indischen Ebenen und Tälern lastet, nach Bombay und von dort in fast dreiwöchiger Seefahrt nach London, wo er am 12. Juni ankam und wo ihn sein Sohn erwartete, der schon seit einem Jahre in Deutschland weilte. Mit einem in London gekauften Kraftwagen reiste Herr Pliva über die skandinavischen Länder über Deutschland in die Tschechoslowakei, um endlich am 23. Juli nach fast 31jähriger Abwesendheit wieder in seiner Vaterstadt Zwittau einzukehren, wo er mit seinem Sohne im Hotel „Stadthof“ Wohnung nahm. Rasch fand er sich wieder hier zurecht, bald konnte er alte Freunde begrüßen und im „Stübl“ des Hotel „Unger“ war er bald ein gerne gesehener Gast, dessen aus der Fülle jahrzehntelanger Erfahrungen schöpfenden Schilderungen des Märchenlandes Indien die Stammgäste mit großer Spannung lauschten.

Nach Beendigung seines Zwittauer Aufenthaltes wird Herr Pliva über Ungarn, Österreich, Deutschland und Holland nach England fahren, wo am 04. September sein Schiff nach Indien abgeht. Am 02. Oktober trifft er wieder in Darjeeling ein. Diesen Zeitpunkt darf er nicht überschreiten, weil kurz darauf die großen indischen Feiertage ( Poojahs genannt) beginnen, die 12-14 Tage dauern und die Hauptgeschäftszeit mit der meisten Arbeit für sein Unternehmen mit sich bringen. Anläßlich dieser Feiertage halten selbst die Banken und sonstigen europäischen Geschäfte Kalkutta durch 5-6 Tage geschlossen und alle Europäer, namentlich in den bengalischen Städten, die irgendwie die Möglichkleit dazu haben, benutzen diese Tage, um den Höhenkurort Darjeeling aufzusuchen, der dann so überfüllt ist, daß oft kein Bett mehr aufzutreiben ist, obwohl jedes zweite Haus für die Beherbergung von Fremden eingerichtet ist.

Für die große Reise, die ihm noch bevorsteht, und für seine weitere Zukunft wünschen wir unserem wackeren Landsmanne Glück und Wohlergehen.

Quelle: Zwittauer Nachrichten Nr. 31 vom 31. Juli 1937, 37. Jahrgang


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